Mit offenen Augen meditieren

„Wenn wir aus der Meditation zurückkehren und wieder „zu Sinnen“ kommen, dann ist das durchaus wörtlich zu nehmen. Erkennen wir keine unmittelbaren Ergebnisse im Außen, erleben wir wieder Mangel und Getrenntsein mit den dazugehörigen Emotionen. Und wir erliegen der Überzeugung, es hätte sich nichts manifestiert.“ – Dr Joe Dispenza


Veröffentlicht im August, 2021 

Irgendwann kommen wir alle an den Punkt, an dem wir denken: Das funktioniert bei mir nicht, das dauert einfach zu lange, Meditieren ist nicht mein Ding, irgendwas mach ich falsch… Viele überlegen, ob sie nicht damit aufhören sollten, manche meinen, sie hätten versagt. Das sprechen wir vielleicht nicht laut aus, denn noch versuchen wir ja so zu tun, als ob wir ein neues Ich erschaffen; doch manchmal geht es uns damit schlechter als zuvor.

Und das alte Ich ist immer gerne bereit zurückzukehren.

Es erfordert einerseits sehr viel Energie und Gewahrsein, sich seiner unbewussten Gedanken, Verhaltensweisen und Emotionen bewusst zu bleiben; aber das Warten darauf, dass sich unsere neue Zukunft manifestiert, erfordert andererseits auch viel Selbstmitgefühl. 

Ich spreche ja oft über die gemeinsamen Erfahrungen und charakteristischen Merkmale von Menschen, die sich erfolgreich transformiert haben; aber wir alle können auch mit einer anderen Erfahrung etwas anfangen, von der nur selten die Rede ist. Wir alle wissen, wie frustrierend lange es dauern kann, bis eine Ursache eine Wirkung erzeugt, bis der Gedanke an etwas Gewünschtes für uns Wirklichkeit wird. Wir können das als den Raum bezeichnen bzw. die Zeit, die einen Bewusstseinspunkt von einem anderen trennt.

Mitten im Fluss des Wandels fühlt es sich manchmal so gut an, sich wieder unseren Sinnen zuzuwenden und uns selbst zu beweisen, dass keine Veränderung stattgefunden hat. 

Wir sehen uns in unserer nur allzu vertrauten Umgebung um, um zu erkennen, ob sich etwas verändert hat; doch unsere Sinne nehmen keinen Unterschied wahr, keine Veränderung unserer Realität. Dadurch spüren wir den Mangel noch viel mehr, und die alten Gefühle der Ungeduld und Enttäuschung, des Grolls und des Versagens sind noch stärker als zuvor.

Vergiss dabei jedoch nicht, dass du eine Fertigkeit erlernst, und das erfordert viel Zeit und Übung. 

Meistermusiker und Meistersportler entwickeln ihre Fähigkeiten durch Praxis, und zwar über 10.000 Stunden!
In diesem Fall wirst du zum Meister über dich selbst. Du lernst, mit offenen Augen im Spiel des Lebens zu praktizieren. Sich all der Gedanken und Handlungen bewusst zu sein, die von diesen hochemotionalen Verfassungen getrieben werden, erfordert fleißiges und gewissenhaftes Üben.

Wenn du normalerweise erst so gegen Mittag aufstehst, aber gerne um sechs Uhr morgens aufwachen möchtest, wird sich das eine Zeitlang sehr unangenehm anfühlen, denn dein Körper passt sich an einen neuen Tagesrhythmus an. Du denkst: Na und? Die Alternative wäre, sich nicht zu verändern. Doch am nächsten Morgen nimmst du über deine Sinne immer noch dasselbe Leben wahr, blickst durch die Brille desselben Körpers und seiner vertrauten emotionalen Verfassungen, hoffst aber, nicht mehr dasselbe zu fühlen. Aber siehe da! Deine Sinne liegen immer noch im Tiefschlaf –du machst das „eine Zeitlang“ und erlebst keine Veränderungen. Frühmorgens aufzustehen, scheint unmöglicher denn je zu sein, weil dein Körper buchstäblich jeden Morgen in der Vergangenheit feststeckt. 

Dein ganzer Körper will den vertrauten chemischen Zustand, der mit Ausschlafen assoziiert wird, und da er ja auf den Geist konditioniert worden ist, will er halt, was er will.

Hier tappen die meisten Leute in die Falle. Wenn wir aus der Meditation zurückkehren und wieder „zu Sinnen“ kommen, dann ist das durchaus wörtlich zu nehmen. Erkennen wir keine unmittelbaren Ergebnisse im Außen, erleben wir wieder Mangel und Getrenntsein mit den dazugehörigen Emotionen.

 Und wir erliegen der Überzeugung, es hätte sich nichts manifestiert.

Passt unser äußeres Umfeld nicht zu dem, was wir in der Meditation kreiert haben, erleben wir diese Verzögerung – diesen langen Zeitabstand zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Gedanken und Erfahrung, zwischen einem Bewusstseinspunkt (ich möchte das) und dem anderen Bewusstseinspunkt (ich bekomme es). Wenn wir diese Zeitdifferenz erleben – und es sich dabei um eine lange Zeit handelt – wollen die meisten Menschen aufgeben in ihrem Bemühen, zu einem neuen Ich zu werden.

Meistens werden wir ja auf Abruf bzw. nach Bedarf mit dem versorgt, was wir wollen, und dank der heutigen technologischen Möglichkeiten ist der zeitliche Abstand zwischen dem Gedanken an das Gewünschte und der tatsächlichen Erfahrung kürzer geworden. Unterbewusst haben wir deshalb den Anspruch, das Gewünschte ohne allzu langes Warten zu bekommen.

Doch so laufen Veränderungen außerhalb der dreidimensionalen Welt eben nicht ab.

Im obigen Beispiel bezahlen wir jemanden dafür, dass er etwas für uns tut und dafür seine Zeit und seine Energie investiert. Wenn wir lernen, wie man kreiert, signalisiert die zeitliche Verzögerung manchmal Enttäuschung und Ungeduld, und dann werden wir wieder zu Materie, die versucht, Materie zu verändern: wir drängen, kontrollieren, konkurrieren, kämpfen, erzwingen, wünschen, hoffen, nehmen vorweg, tun das, was, wie wir meinen, schnellere Ergebnisse beschert – und meistens versuchen wir dabei auch, mehr in kürzerer Zeit zu erledigen.

Stell dir einmal vor, du möchtest freundlicher und verständnisvoller werden. Nach dem Meditieren steigst du ins Auto und fährst zur Arbeit. Beim Einbiegen auf die Autobahn wirst du von einem anderen Fahrer geschnitten und du hast einen kleinen Auffahrunfall mit Blechschaden mit dem Auto hinter dir. Ohne innezuhalten und dich zu sammeln, wirst du sofort wütend und gibst jemandem die Schuld – nicht nur dem Fahrer, der dich geschnitten hat, sondern auch der Person, die mit ihrem Auto zu dicht hinter dir gefahren ist. Und du hast auch noch genug Frust und Schuldgefühle für dich selbst übrig, weil du zur falschen Zeit am falschen Ort warst. Wo sind die ganze Freundlichkeit und das Verständnis geblieben? Du denkst zurück an deine Morgenmeditation und wünschst dir, du hättest dich anders verhalten. Und du sagst dir: Ich mach da wohl irgendwas falsch.

Wenn wir erst einmal zu der Meinung gekommen sind, dass wir es nicht richtig machen bzw. beim Meditieren versagt haben, verurteilen wir uns noch mehr und sind noch ungeduldiger, denn wir fühlen uns von unserem neuen Ich in unserem neuen Leben getrennt und erleben das als Mangelgefühl. 

Wir wollen das schneller erreichen und stecken fest in unserem Versuch, in großer Eile ein Ergebnis zu erreichen. Wenn wir von unseren Sinnen die Bestätigung bekommen, dass sich trotz unserer harten Arbeit nichts verändert hat, reagieren wir darauf emotional noch stärker. Gedanken wie ich habe versagt, ich mach es nicht richtig oder mit mir stimmt etwas nicht sind genau das, was uns zu der alten Persönlichkeit zurücktreibt, der wir zu entkommen versuchen. Suchen wir nach jemandem, dem wir die Schuld in die Schuhe schieben können, sind wir bereits wieder zum alten Ich zurückgekehrt – das neue Ich hat überhaupt kein Interesse an Schuldzuweisungen. Wir können uns erst dann verändern, wenn wir uns daran erinnern, dass wir ja das neue Ich sind und nicht mehr das alte. Tatsache ist: 

Nichts in unserem Leben kann sich jemals verändern, bis wir selbst uns verändern. 

Noch ein Beispiel: Du stellst dir eine neue Beziehung mit jemandem vor und bringst diese Intention mit den höheren Emotionen der Liebe und der Freude zusammen. Du öffnest dein Herz und spürst diese Gefühle jeden Morgen. Und dann gehst du deinen Alltag an, und diese Person taucht in deinem Leben nicht auf. An diesem Punkt solltest du innehalten und überlegen. Warum bist du überhaupt auf der Suche nach dieser Person? Wenn du auf der Suche bist, dann bist du wieder dein altes Ich, welches Mangel leidet. Als dein neues Ich fühlst du die Liebe dieser neuen Beziehung mit diesem Menschen bereits bevor sie sich manifestiert, deshalb musst du dich auch nicht auf die Suche machen, denn du fühlst dich von der Erfahrung nicht abgetrennt.

Im Zustand des Mangels betrachtest du die Realität nach wie vor durch die Brille eines konditionierten, unbewussten Programms, welches sagt: Wo ist es denn?

Wenn du durch diese Brille schaust und auf der Suche nach etwas bist, danach Ausschau hältst, bist du davon getrennt, denn du fühlst nicht die Emotionen, die damit assoziiert sind, wenn du es hast. Mit den Emotionen der Liebe würdest du nicht danach suchen, sondern hättest das Gefühl, das Gewünschte sei bereits eingetreten bzw. du hättest es schon. 

Wie können wir nach dem Meditieren die Augen aufmachen und nicht in die unbewussten Programme unseres Wachzustands im Alltag verfallen? 
Du weißt bereits, wie das geht. Als erstes musst du mit offenen Augen Gewahrsein entwickeln und wach bleiben. Bewusstsein ist Gewahrsein, Gewahrsein ist Aufmerksamkeit, und Aufmerksamkeit ist Bemerken. Aufmerksam sein ohne zu bewerten ist dabei das Schwierige. Kannst du lernen zu beobachten, ohne auf das, was du siehst, mit aufgeladenen Emotionen zu reagieren? Und kannst du merken, dass du wieder in Unbewusstheit verfallen bist, ohne dich zu verurteilen?

Ich versuche, den Menschen beizubringen, ihre Verfassung „auf Befehl“ zu verändern. Dabei geht es einfach darum, sich beim Vergessen zu ertappen und dann wieder zu erinnern. Es geht dabei nicht darum, ob du „es richtig machst”; du machst es richtig. Vielmehr lautet die Frage, wie oft du vergessen musst, bis du mit dem Vergessen aufhörst und mit dem Erinnern anfängst. Anders gesagt: Wie oft musst du in Unbewusstheit verfallen, bis du bewusst bleibst? So meistern wir uns selbst und entwickeln uns im Spiel des Lebens weiter.

Oder, wie meine Mutter zu sagen pflegte: Morgen ist auch noch ein Tag …